Der Moment des Abschieds
Ich war entsetzt, als ich realisierte, dass ich in diesem Moment mit ihr alleine sein würde. Gerade erst hatte ich doch meine Familie angerufen und sie gebeten zu kommen, weil es wohl nicht mehr lange dauern würde. Und nun gab mir die Schwester zu verstehen, dass der Moment gekommen sei. Sie ließ uns alleine.
Mich und meine Mutter, die uns ihr Leben lang so viel gegeben hatte. Es war heiß und still in dieser Juli-Nacht und die Schwestern hatten ihr Kühlpacks unter die Hände gelegt. Das Licht war gedämpft und ich hatte eine CD mit sanften, deutschen Mantren aufgelegt, die mir eine Freundin geliehen hatte. Noch heute erinnere ich mich genau, als ich die Hand meiner Mutter berührte und erschrak, weil sie eiskalt war. Ich hatte sofort Schuldgefühle, weil ich ihr die Kühlpacks nicht früher entfernt hatte. In dem Moment verstand ich nicht, dass ihre Seele bereits im Begriff war, den Körper zu verlassen.
Nun war er also da, der Moment des Loslassens. Und ich war diejenige, die die Aufgabe hatte, sie zu begleiten. Eine der größten Ängste meiner Mutter war lange gewesen, dass sie im Moment des Todes nicht würde loslassen können, weil sie einmal irgendwo gelesen hatte, der Tod sei wie das Leben, das der Mensch gelebt hatte. Und meine Mutter hatte in ihrem Leben viele, viele Zweifel gehabt und rang häufig im Suchen nach der Wahrheit des Lebens mit ihren inneren Widersachern. Demnach hatte sie große Angst, ihr Tod würde einem ebensolchen Ringen gleich kommen.
Der Tod ist gnädig, wenn Du ihn bittest
Im Kapitel über den Tod im Buch „Freigeliebt leben“ schrieb ich bereits, dass der Tod mich eines gelehrt hat: Er ist gnädig. Meine Mutter war eine sehr spirituelle und bewusste Frau und hatte daher – trotz oder wegen ihrer Ängste – darum gebeten, ihr Tod möge sanft sein.
Als ich begriff, dass ich nun diejenige war, die die Aufgabe hatte, jetzt an ihrer Seite zu sein, war ich entsetzt. „Ich bin doch Dein Kind, wieso kann nicht eine Freundin oder mein Vater bei Dir sein?“ schoss es mir durch den Kopf. Gleichzeitig wusste ich: Es geht jetzt nicht um mich. Also nahm ich all meine Kraft zusammen und sprach ihr Mut zu. „Es ist in Ordnung, wenn Du jetzt gehst“, sagte ich zu ihr. „Dein Leiden hat dann ein Ende und Du kannst Dich endlich von all dem erholen.“ (Ich glaube daran, dass nur der Körper stirbt, nicht aber die Seele.) Als sie ein letztes Mal ausatmete, brach ich heulend über ihr zusammen. Mir entfuhr ein tiefer Schluchzer, dann atmete ich tief ein und realisierte plötzlich, welches Mantra von der CD lief. Es hieß „Ich lasse los“.
Die Tatsache, dass meine Mutter sanft und ohne inneren Kampf gehen konnte, hat mich durch die Zeit des Trauerns getragen. Dieser Moment war mit der schwerste in meinem Leben. Aber ich möchte ihn nicht missen. Denn er hat mir viel Angst vor dem Tod genommen. Er hat mir gezeigt, dass der Tod gnädig ist, wenn Du ihn darum bittest.
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